Gedichte und Texte - 1968 Die Wand
In einer Höhle Dämmerlicht,
weitab im Niemandsland,
ein Greis mit bebender Stimme spricht
von sich zu einer Wand.

"Hör zu, du graue Wand,
hör zu, was ich Dir sag'!
Hör von meinem Lebensgang
Und von dem morg’gen Tag."

"Ich gehörte zu der armen Schar,
die einen Freund nie fand.
So nahm, verzweifelt wie ich war,
ein Buch ich in die Hand."

"Es war ein Buch der Wissenschaft,
das in den Bann mich schlug.
Ich fühlte meine Geisteskraft,
die ich in mir trug."

"Ich nutzte diese Geisteskraft
und las der Bücher viel.
Viel Wissen hab' ich mir verschafft,
was meinem Stolz gefiel."

"Mit eig'ner Kraft schuf ich Gedanken,
die vor mir noch kein Mensch gedacht.
Sie brachen alle ird'schen Schranken -
die Menschen haben mich verlacht!"

"Ich, der grösste Denker aller Zeiten,
der eine neue Richtung wies,
ich wollte diese Menschen leiten,
wollt' führen sie ins Paradies."

"Sie hörten nicht auf meine Worte,
verbittert wandte ich mich ab.
Sie sahen nicht die Glückespforte,
sie schaufelten ihr eig'nes Grab."

"Ja, hör nur zu, du graue Wand,
hör zu, was ich Dir sag'!
Du hörtest meine Lebensgang,
jetzt hör vom morg'gen Tag."

"Auf Rache sann ich immerzu,
weil man mich verhöhnt.
Morgen siehst das Ende du,
wenn die Erde bebt und dröhnt."

Des Greises Augen starren wild,
der Atem und die Pulse fliegen.
Vor sich des Unterganges schrecklich' Bild
bleibt sterbend vor der Wand er liegen.

 

Seitenanfang >